Vielleicht bring’ ich das im Herbst noch unter! So lauteten meine letzten Worte auf der Tour durch die Tuxer Alpen.
Gemeint war der Herbst 2012! Beinahe zwei Jahre müssen ins Land ziehen, bis ich endlich am Zentralalpenweg fortsetzen kann.
Vier Tage sind geplant, um – die gesamten Stubaier Alpen überquerend – vom Stubaital ins Ötztal gelangen.
Der Zeitplan ist etwas straff, da auch ein Schlechtwettertag vorhergesagt ist. Um übernachtungstechnisch flexibel zu sein, kommt das Zelt in den Rucksack. Zumindest für die ersten beiden Tage soll das Wetter ja stabil bleiben.
Die Tour beginnt bereits am Vorabend am Grazer Hauptbahnhof, um 22:24 Uhr fährt der Nachtzug gen Westen ab. Meine Liegewagenpremiere verläuft angenehm und erholsam, es gibt keine schnarchenden Abteilgenossen, auch die Klimaanlage hat die Situation fest im Griff. Das sanfte Schaukeln sowie das monotone tak-tak tak-tak des Waggons lullen mich bald in einen tiefen Schlaf.
4:48 Uhr – überpünktliche Landung in Innsbruck, sogar ein Frühstück ist um diese Tageszeit schon aufzutreiben! Um die Wartezeit zu verkürzen, schlendere ich gemütlich zum Stubaitalbahnhof, von wo mich die erste Straßenbahn nach Fulpmes bringen wird.
Um 7:18 Uhr geht’s dann endlich los! Wie gestern erscheint es mir, dass ich hier die letzte Etappe beendet habe.
Tag 36: Fulpmes – Franz-Senn-Hütte
Der Tag beginnt mit einem saftigen Aufstieg, von 937m auf 2518m Seehöhe muss ich. Doch etwa bei der 2200m-Marke wartet auf der Starkenburger Hütte mein zweites Frühstück!
Der Aufstieg erfolgt fast ausschließlich auf breiten Wegen, da kann ich ordentlich Gas geben. Noch habe ich ja Energie. Bald erreiche ich die Nebelgrenze und marschiere dem blauen Himmel entgegen.
Es gibt schöne Rückblicke zu den Gipfeln in den Tuxer Alpen, der Geier mit 2857m war der bisher höchste Punkt auf der 02er-Route. Doch auch seinen um 29m höheren Nachbargipfel, den Lizumer Reckner habe ich damals erklettert.
Die Knappenhütte hat (noch?) geschlossen, kommt so für eine Pause leider nicht in Betracht. Auf den letzten 300 Höhenmetern muss also noch ein Bankerl am Wegesrand zum Verschnaufen herhalten.
Nach dreieinhalb Stunden erreiche ich schließlich die Starkenburger Hütte, ein großes Getränk und einen Kaiserschmarrn bestelle ich mir. Hier eröffnet sich auch der Blick auf die weitere Route.
Unglaublich, der Peterka-Führer gibt hier eine Gehzeit von lediglich 2:15 Stunden an, ich habe um die Hälfte länger gebraucht und bin mir eigentlich recht flott vorgekommen. Das Büchlein des Alpenvereins schätzt da mit 4:30 Stunden deutlich konservativer.
Langsam kommen mir Zweifel, ob die Tour so wie geplant durchführbar sein wird. Es liegt rundherum doch deutlich mehr Schnee als gedacht. Noch dazu sehe ich derzeit nur die Südseite der Berge über die ich will. Wie es nordseitig aussieht, kann ich nur vermuten. Bald werde ich aber hoffentlich mehr erfahren.
Nach einer halben Stunde Pause nehme ich den Weiterweg in Angriff, noch 300 Höhenmeter warten. Bin ich bisher auf grünem Almboden unterwegs gewesen, ändert sich das Gelände schlagartig. Ich biege um eine Kurve und stehe – zack-bumm – vor der total zerklüfteten Schlicker Seespitze, unter der ein langes Geröllfeld gequert wird.
In der Schlicker Scharte treffe ich auf den Franz-Senn-Weg, auf diesen Abschnitt freue ich mich schon lange. Stets aussichtsreich verläuft er im Hang bis in den Talschluss zur gleichnamigen Hütte. Ein wenig erinnert er mich an den Pinzgauer Spaziergang, nur sind hier die Hänge steiler, Trittsicherheit ist gefordert. Stellenweise ist der Weg mit Sicherungen versehen, auch wenn ich diese nicht immer als nötig erachte.
Der Weg ist immer wieder mit fein dosierten Höhenmetern gewürzt, es kommt einiges zusammen. Nach dem Aufstieg am Vormittag spüre ich mittlerweile die ungewohnte Belastung.
Mit drei Rufzeichen warnt die – wie zur Bestätigung geknickte – Steinschlagstafel, dass dieser Weg nur für Geübte geeignet ist und hier alpine Erfahrung gefragt sei.
Mein Fazit: Allzu schwierig ist dieser Wegabschnitt nicht, er verläuft jedoch im oft sehr steilen Hang, ein Ausrutscher kann durchaus böse enden. Dass die Steinschlaggefahr sehr real ist, zeigt ein großer Felsblock, welcher es sich mitten am Weg bequem gemacht hat.
Etwa auf halber Strecke liegt die Seducker Hochalm. Dort möchte ich mich kräftig zu stärken, um nicht mit leerem Magen zelten zu müssen. Doch vor Ort verspricht die ausgehängte Speisekarte zwar eine zünftige Jause, nur leider ist die Alm geschlossen. Es ist einfach keiner da.
Nicht einmal Trinkwasser ist zu bekommen.
Das bedeutet für mich: Die Zeltnacht wird gestrichen und ich werde in der Franz-Senn-Hütte übernachten (müssen).
Noch zwei Stunden werde ich dorthin benötigen, kündigt ein Wegweiser an. Am weiteren Wegverlauf ändert sich nicht viel, außer dass die Hänge noch steiler werden und ich die Versicherungen mittlerweile gerne annehme.
Bald erreiche ich die Abzweigung zum Großen Horntaler Joch. Auf halbem Weg hinauf hätte ich gerne gezeltet. Doch nun ist es nicht nur der leere Magen, der mich davon abhält, auch die Beine spielen nicht mehr mit.
Also muss ich den Umweg über die Hütte in Kauf nehmen, eine halbe Stunde und 100 Höhenmeter werde ich morgen wieder zurückgehen müssen.
Die Franz-Senn-Hütte ist riesig, von einem Massenbetrieb zu sprechen ist nicht untertrieben. Trotzdem schafft es das Personal, alle Gäste freundlich und schnell zu bedienen.
Ich bekomme nur mehr einen Platz im großen Lager, schlafe aber erstaunlich tief und gut. Beinahe versäume ich sogar das Frühstück…
Tag 37: Franz-Senn-Hütte – Schafgrübler – Praxmar
Knapp vor 8 Uhr bin ich abmarschbereit, für eine Hüttenübernachtung ziemlich spät. Zuerst muss ich wieder zurück zur besagten Abzweigung, von dort führt der Weg steil hinauf zum Horntaler Joch.
Schnell merke ich, dass mich der gestrige Tag doch stark mitgenommen hat. Um den Zeitplan einzuhalten – besonders im Hinblick auf den morgigen Schlechtwettertag – müsste ich heute nochmals 1900 Hm “machen”. Soviele sind es bis zur Neuen Pforzheimer Hütte. Ob sich das wohl ausgehen wird?
Es dauert nicht lange, da reift in mir der Entschluss, es bereits in Praxmar bleiben zu lassen. Sofern ich überhaupt über das Horntaler Joch drüber komme, über die Schneelage auf der Nordseite weiß ich ja noch immer nichts.
Bald tauchen die ersten zu querenden Schneefelder auf. Das kostet Kraft, immer wieder versinke ich bis zu den Knien. Der finale Anstieg und das Joch selbst scheinen jedoch schneefrei zu sein.
Nach knapp zwei Stunden stehe ich auf 2812 m und somit am Großen Horntaler Joch.
Nun kann ich endlich einen Blick auf die andere Seite werfen: Es liegt tatsächlich sehr viel Schnee, von der Sonne aber bereits stark aufgeweicht, was einen problemlosen Abstieg auch ohne Grödel oder Steigeisen ermöglicht!
Da ich jetzt ja Zeit habe, kann ich noch einen Gipfel mitnehmen: Der Schafgrübler stünde gleich neben dem Joch parat. 20 Minuten Aufstieg sind es laut Wegweiser, dreißig benötige ich bis zur verdienten Gipfelrast. Ein einsamer Gipfel, der letzte Eintrag im Gipfelbuch ist schon Wochen her.
Ich nehme mir ausreichend Zeit zum jausnen, genieße das Panorama und komme ein wenig ins Grübeln: Hat der der Schafgrübler seinen Namen nun von grübelnden Schafen oder grübelt er selbst über die vielen Schafe an seinem Hängen?
Von Westen zieht mittlerweile ein grauer, dichter Wolkenschleier auf. Ob das Wetter überhaupt bis zum Abend durchhält?
Hinunter nehme ich die Abkürzung, muss gar nicht bis zum Joch zurück gehen und steige bei der ersten Möglichkeit in das Schneefeld ein. So mühsam der Aufstieg war, so rasant geht es jetzt talwärts. Eine halbe Stunde später bin ich vom Gipfel bereits weit entfernt.
Im Kar am Fuße des Schneefelds gäbe es schöne Zeltplätze, gestern waren sie für mich leider nicht mehr erreichbar und heute Abend möchte ich bereits wieder im Tal sein. Ist jedoch fürs nächste Mal notiert!
Der Weg quert sehr ausgesetzt die Nordhänge der Lüsener Villenspitze, danach folgt ein stark vergewachsenes Stück. Hier muss ich aufpassen, den schmalen Pfad nicht zu verlieren.
Schließlich geht es steil hinunter nach Lüsens, wo ich im Gasthof einkehre. Ein Wiener Schnitzel samt frittierter Kartoffelstäbchen sowie ein Liter Flüssiges wandern schneller in meinen Magen als der Kellner sie herbeitragen kann.
Nun steht nur mehr der talauswärts führende Panoramaweg nach Praxmar zwischen mir und dem Ende dieser 02A-Etappe. Dort zieht der Zentralalpenweg nach links hinauf zum Satteljoch hinauf, dahinter im Gleirschbachtal liegt die Pforzheimer Hütte.
Hier würde ich gerne die Wanderschuhe an den imaginären Nagel hängen. Doch leider hat die Postautowendestelle in Praxmar schon lange keinen Autobus mehr gesehen. Auch am Parkplatz lässt sich keine Mitfahrgelegenheit auftreiben. So bleibt mir nichts anderes übrig, als noch sechs Kilometer hinaus nach Gries im Sellrain zu marschieren.
Der drohende Asphalthaltscher lässt sich größtenteils vermeiden, bald kann ich auf den Wanderweg mit der Nummer 1 ausweichen. Auch wenn mich dieser wertvolle Zeit kostet: Schon beinahe am Ziel angelangt, sehe ich unter mir den letzten Bus davonfahren, mit dem ich heute noch nach Hause gelangen könnte.
Schließlich erreiche ich den Innsbrucker Hauptbahnhof gerade sechs Minuten nach der letzten Zugverbindung nach Graz. Doch so verschwitzt und ungewaschen wäre ich ohnehin eine Zumutung für andere Fahrgäste gewesen, hätte ich mich einfach so in ein Abteil gesetzt. Also bleibe ich hier.
Weit tragen mich meine Füße heute nicht mehr: Ungeachtet des Preises buche ich mich gleich ins IBIS am Bahnhof ein und speise beim Schachtelwirt ebendort. Das folgende Zitat meines Weitwanderer-VorbildsKollegen Hans bewahrheitet sich einmal mehr:
Und der große Reiz des Weitwanderns zeigt sich in einer paradoxen Facette: Niemand verzichtet dankbarer in den folgenden 12 Stunden auf jeden unnötigen Schritt als jemand, dessen größte Leidenschaft darin besteht, zu Fuß das ganze Land zu durchqueren…
Hiermit habe ich Hans am Zentralalpenweg offiziell überholt. Das freut mich insofern, als dass ich, wenn bei ihm die Stubaier Alpen anstehen, mich endlich für die umfangreichen Tipps bei den Planungen zu all den vorhergehenden Etappen revanchieren kann!
Link: Zwei Wochen später habe ich die Tour fortgesetzt.
Mit Deinem enormen Aufstieg von Fulpmes zur Starkenburger Hütte begann also mein sozialer Abstieg vom Vorbild zum Kollegen! 😉
Ungeachtet dessen: Respekt!
Hmmmmmm …. Deine wiederholten Verweise auf die stark ausgesetzte Route dämpfen gerade ein wenig die Vorfreude …. hmmmmm.
You will be fine! Einer der schönsten 02er Abschnitte liegt vor Euch!
Wenn ihr schon in den Stubaiern seid, grüßt mir bitte Wilhelm Oltrogge!